Au Revoir, Jean-Luc Godard!
- Sabine Reichel
- Sep 20, 2022
- 3 min read

Manche Künstler haben die Power und schiessen dich wie einen treffsicheren Pfeil mitten in eine Zeit, an die du lange nicht gedacht hast. Als ich las, dass Jean-Luc Godard mit 91 Jahren (und mit Sterbehilfe) starb, sah ich sofort in einer Art auf mich zutanzenden Fotomontage all die schwarz-weiss-Filme der frühen sechziger Jahre. Mittendrin, nahezu perfekt passend, die junge mode- und filmbesessene 19-jährige, die ich damals war (filmbesessen bin ich immer noch). Und natürlich waren es fast nur Godards fantastische Filme, auf die es in diesen Jahren ankam.
Es fing 1963 mit den Beatles an. Alles fing mit den Beatles an! Neuland! Endlich gab's die nötige Revultion, auf die wir Nachkriegskinder so gelauert hatten. Und die kam nicht etwa aus dem drögen, immer noch naziverseuchten Deutschland, sondern aus England mit der British Invasion , allen voran den Fab Four! Doch was Filme anging hatte ich, die anglophile Hamburgerin , gleichzeitig die französische "nouvelle vague", die "Neue Welle", entdeckt, dessen markanter Star der schwarz-bebrillte, etwas sperrige Intellektuelle Jean-Luc Godard war.
Die 100% originellen Filme waren meist ein bisschen radikal und oft politisch angehaucht. Die immer stylish inszenierte Mischung aus Modernität, Realität, Spontanität und Szenen, die oft irreverent und witzig waren, und von dem berühmten "cinema verité" Kameramann Raoul Coutard auf der Strasse wie eine "live" news story gefilmt wurde, begeisterte uns Filmbesessene.
Besonders wichtig war für uns junge Frauen, dass Godard, besonders mit der dänischen Schauspielerin (und 1. Ehefrau) Anna Karina, die in vielen seinen besten Filmen die Hauptrolle spielte, einen neuen, frischen Frauentyp und eine Fashion-Ikone kreierte, in der ich mich endlich wiederfand. Der undeutsche "Look" (in der französichen ELLE, die ich verschlang, propagiert) hatte es mir angetan. Mit Ponyfrisuren, schwarzen enge Pullis, karierten kurzen Röcken und witzigen Stiefeletten angetan, gingen die offenbar recht emanzipierten und unverheirateten! Frauen gleichberechtigt mit ihren Boyfriends (manchmal 2 auf einmal. Incroyable! ) auf Abenteuer, auch sexuellen. Wow! "Freizügig" nannte man das damals.

In jedem Fall wollte ich mit 14 Jahren wie Jean Seberg auf dem Kopf aussehen, noch bevor ich Godards ersten Film "Ausser Atem" (1958) gesehen hatte (da war ich noch zu jung und der Film unter Garantie nicht "Jugendfrei".) Meine Eltern waren nicht begeistert über meine selbstgeschnittenen "Raspelfransen" - aber ich dafür auf dem Weg zu einer Art Godard-Girl-Verschnitt.
Ich war immer sehr schnell zu begeistern, liebte Trends und die Avantgarde, und wenn mich die Leidenschaft gepackte hatte, musste ich alles wissen, sehen und hören, was es gab. Also fing eine Godard-Liebe an. Alle seine Filme von 1963 bis 1972 wurden zusammen mit meinem ebenso filmbesessenen (und Gauloise-rauchenden) Freund nahezu ritualistisch und komplett enthusiastisch in einem Hamburger "Filmkunstkino" gesehen und durchdiskutiert. Da waren wir nun: Die Kinder von Marx und Coca Cola wie es so schön bei Godard hiess. Wir waren mächtig stolz!

Ich erinnere mich an: "Une Femme Mariée", "Le Petite Soldat", "La Chinoise", "Masculin Féminin", "Bande a Part" (Die Aussenseiterbande), "Vivre Sa Vie", "2 or 3 Things I know about her". Ich liebte besonders "Pierre le Fou" (mit Anna Karina und Jean Paul Belmondo) und das Meisterwerk "Contempt" 1963, ("Die Verachtung") mit Brigitte Bardot in Hochform.
Dann änderten sich die Filme, fand ich - oder vielleicht mein Geschmack. Mit "Weekend" (1967 - einer sinnlosen und langweiligen Autokarambolage mit endlosem Ehezank), konnte ich wenig anfangen. Doch erst "Tout Va Bien" 1972 (mit Jane Fonda) fand ich so unerträglich angestrengt fake-politisch, dass ich mich von Jean-Luc verabschiedete. Und mich wieder meiner ersten grossen Filmliebe zuwandte, dem amerikanischen Autorenkino.
Natürlich hatte ich Godard vollkommen unterschätzt. Man sagt, er habe noch so viele interessante, brillante, mutige, provozierende und berührende Filme gemacht, so dass ich die Akte Jean-Luc Godard noch einmal neu studieren möchte.
Wenn das Leben eine Reise ist - und davon gehe ich immer aus - dann sind die Stationen der zeitgeistigen Kulturbomben in Film, Musik und Kleidung ein sehr wertvoller Rückblick in die Selbstentdeckung.
Und so sage ich zu Godard wie zu allen Ikonen, die nicht mehr mit mir auf dem Trip sein können: THANK YOU FOR YOUR ART!

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